Die deutsche Krankheit und die japanische
Krankheit Toru Kumagai
Dieser Vortrag wurde am 7. Juli 2006 im BMW
Forschungs- und Innovationszentrum in Muenchen
gehalten. Anlass war das 5. Deutsch-Japanisches
Wirtschaftstreffen. Organisatoren: DAAD(SP
Japan Alumni), DJW und JETRO.
1
Einleitung
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
Herr Leckebusch, Herr Ishikawa,
ich moechte mich zunaechst herzlich bedanken,
das Sie mir eine Gelegenheit gegeben haben,
hier einen Vortrag zu halten. Es ist eine
grosse Ehre fur mich. Ich moechte mich Ihnen
kurz vorstellen. Ich bin in Tokio geboren
und habe in Tokio Volkswirtschaftswissenschaften
studiert.
Ich habe 8 Jahre beim japanischen oeffentlich-rechtlichen
Fernsehsender NHK (Japanisches Fernsehen)
als Redakteur und Korrespondent gearbeitet.
Ich war auch als Auslandskorrespondent in
Washington DC taetig.
Seit 16 Jahren wohne ich in Muenchen und
arbeite als freiberuflicher Journalist fur
verschiedene japanische Medien. Dieses Jahr
habe ich lange Aufsaetze uber die deutschen
Spitzenunternehmen und im Sonderheft der
?Harvard Business Review Japang veroeffentlicht.
Bisher habe ich in Japan 6 Bucher ueber Deutschland
veroeffentlicht.
2
Woher kommt die wirtschaftliche Malaise in
Deutschland ?
Ich habe vor kurzem ein Buch ueber die wirtschaftlichen,
und demographischen Herausforderungen, mit
denen sich Deutschland und Japan im 21. Jahrhundert
auseinandersetzen muessen, geschrieben. Das
Buch wird nachsten Monat in Japan erscheinen.
Ich habe dieses Thema ausgewaehlt, weil Deutschland
und Japan meiner Meinung nach beide vor einer
harten Probe stehen.
Diese zwei Laender haben aehnliche geschichtliche
Hintergruende und Probleme.
Beide Laender haben nach dem Zweiten Weltkrieg
den Angriffskrieg als Fortsetzung der Politik
verurteilt und haben sich damit abgefunden,
auf der Buehne der internationalen Machtpolitik
Zwerge zu bleiben. Wir haben uns stattdessen
auf die Steigerung des wirtschaftlichen und
sozialen Wohlstands konzentriert.
Wir beide haben mehr Wert auf die Verbesserung
der Produkte und der Arbeitsablaeufe in der
Produktionsstaette gelegt, als auf die Ausdehnung
dre geopolitischen Machtsphaere. Die Rechnung
ging auf, und wir haben beide ein bemerkenswertes
Wirtschaftswachstum realisiert und sind zu
den wichtigsten Exportnationen der Welt geworden.
Unser Wohlstand in Deutschland und Japan
kann sich sehen lassen. Aber es stellt sich
jetzt die Frage, ob es sich noch in Zukunft
halten laesst. Ich sehe sogar einige Anzeichen,
dass dieser Wohlstand ohne ausserordentliche
Anstrengungen und Kurskorrekturen nicht mehr
zu halten ist.
Ich habe in meinem Buch die strukturellen
Probleme in Deutschland detailliert dargestellt.
Hier moechte ich nur ein paar Beispiele nennen.
Es ist erstaunlich, das es der Bundesregierung
auch 16 Jahre nach der Wende nicht gelingt,
die Zahl der Arbeitslosen substantiell zu
senken. Junge, qualifizierte Ostdeutsche
wandern nach Westen ab, weil sie in den neuen
Bundeslaendern keine Zukunft sehen.
Ich halte den Ansatz der Arbeitsmarktreform
?Hartz IVg fuer richtig, aber es muss dringend
nachgebessert werden, weil es durch Missbrauch
zum Anstieg der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
und zu Mehrausgaben gefuehrt hat.
Eine wichtige Ursache der Massenarbeitslosigkeit
sind die hohen Arbeitskosten in Deutschland
im Vergleich zu mittel- und osteuropaeischen
Laendern und Asien. Die Globalisierung hat
diese Schwachstelle der deutschen Wirtschaft
gnadenlos blossgelegt.
Nicht nur die Produktionsstaette sondern
auch Verwaltungs- und Logistikzentren werden
nach Polen oder in die Tschechische Republik
verlegt.
Ich habe in meinem Buch das deutsche Sozialversicherungssystem
nicht nur als Symbol des Wohlstands sondern
auch als wichtigen Grund der hohen Arbeitslosigkeit
genannt.
Als ich vor 16 Jahren nach Deutschland kam,
war ich uber die Grosszuegigkeit des Sozialversicherungssystems,
die kurze Arbeitszeit im Vergleich zu Japan,
die Macht des Betriebsrats und die Mitbestimmung
erstaunt. In Japan ist es immer noch unvorstellbar,
dass ein Angestellter jedes Jahr 30 Tage
bezahlten Urlaub nehmen darf.
Als ich in Japan gearbeitet habe, musste
ich mich beim Vorgesetzten entschuldigen,
um eine Woche Urlaub zu nehmen. Bei uns sind
die Woerter wie Kuendigungsschutz, Sozialplan
und Interessenausgleich voellig unbekannt.
Ich finde es menschlich, das jeder Berufstaetige
in Deutschland das Recht auf Freizeit und
laengeren Urlaub hat. Es ist in Japan gar
nicht selbstverstaendlich.
Aus Sicht der Arbeitnehmer ist zwar dieses
Sozialsystem erfreulich, aber es nagt an
der Wettbewerbsfaehigkeit der deutschen Wirtschaft.
Laut einer Studie des Instituts der Deutschen
Wirtschaft zu verschiedenen Ranglisten zur
internationalen Wettbewerbsfaehigkeit hat
Deutschland den 14. Platz unter den 21 Industrielaendern.
Japan ist uebrigens nur um einen Platz besser
als Deutschland.
Ich habe 8 Jahre in Japan und 1 Jahr in den
USA gearbeitet. Nach dieser Erfahrung finde
ich das Wirtschaftsmodell ?die Soziale Marktwirtschaftg
in Deutschland am menschlichsten und am besten.
Es passt der deutschen Mentalitaet auch.
Die Tatsache, dass viel weniger Arbeitszeit
in Deutschland im Vergleich zu den USA oder
England wegen Streiks verlorengeht, ist ein
Beweis der Staerke des deutschen Konsensmodells.
Ich hoffe deswegen, dass dieses Wirtschaftsmodell
auch in Zukunft erhalten bleibt.
Auch in Deutschland legen viele Unternehmen
grossen Wert auf ?Shareholder Valueg. Aber
wenn man versuchen sollte, das angelsaechsische
Wirtschaftsmodell in Deutschland ohne Anpassung
zu uebertragen, wuerde es nicht reibungslos
funktionieren, weil jedes Land verschiedene
Werteinstellungen hat. Zum Beispiel muessen
die Unternehmen in Deutschland und Japan
nicht nur das Interesse der Aktionaere, sondern
auch andere Stakeholders wie Kunden, Mitarbeiter,
Gesellschaft, Zulieferer und Banken beachten.
Deswegen sollten deutsche und japanische
Unternehmen meines Erachtens einen dritten
Weg zwischen dem traditionellen rheinischen
Kapitalismus und dem angelsaechsischen Wirtschaftsmodell
finden.
Die Kritik am traditionellen deutschen Modell
nimmt zu.
Peter Drucker hat kurz vor seinem Tod in
einem Zeitungsinterview gesagt, dass die
deutsche Soziale Marktwirtschaft in der Zeit
der Globalisierung nicht passend ist. Josef
Ackermann, den ich dieses Jahr schriftlich
interviewt habe, hat gesagt, dass Deutschland
ueber seine Verhaeltnisse lebt.
Deutschland sollte sich meiner Meinung nach
umgestalten, damit die Unternehmen die Produktivitaet
erhoehen, Mehrwert steigern und den Anreiz
bekommen, hier mehr zu investieren. Die Wertschoepfung
muss verstaerkt werden, um unser teures Sozialsystem
weiter finanzieren zu koennen.
In einem Land mit hohen Arbeitskosten finde
ich es wichtig, dass sich die Unternehmen
auf Produkte oder Dienstleistung mit hohem
Mehrwert konzentrieren.
Im Moment ist die Wachstumsrate von Deutschland
eine der niedrigsten in der EU. Damit Deutschland
die Wachstumsschwache ueberwinden kann, braucht
es meiner Meinung nach noch mehr Innovation.
Deutschland braucht einen Paradigmenwechsel
und technologischen Durchbruch, den Joseph
Schumpeter ?kreative Zerstoerungg genannt
hat. Viele auslaendische Beobachter denken,
dass Deutschland dringend mehr Wettbewerb
braucht, und viele Buerger wachgeruettelt
werden sollten.
Ich halte es deswegen im Prinzip fuer richtig,
dass die Rot-Gruene Koalition unter Schroeder
endlich mal die Reformansaetze in die Tat
umgesetzt hat, auch wenn es leider fuer manche
Buergern soziale Haerte bedeutet hat. Sonst
droht die Gefahr, dass das ganze Sozialsystem
nicht mehr tragfaehig sein wird.
Ich finde andererseits die Kommunikation-
und UEberzeugungsarbeit der Regierung gegenueber
der Bevoelkerung, warum die schmerzhafte
Reform notwendig ist, nicht ausreichend.
Dieser Mangel verursachte grosse Verunsicherung
in der Bevoelkerung und fuehrte dazu, dass
weder die CDU/CSU noch die SPD bei der letzten
Bundestagswahl die Mehrheit bekommen hat.
Die Grosse Koalition ist meiner Meinung nach
keine passende Option, um die Reform des
Sozialversicherungs- und Steuersystem rasch
voranzubringen.
Ich finde insbesondere die Reform des Bildungssystems
dringend noetig, um die Wettbewerbsfaehigkeit
zu staerken. Das verheerende Ergebnis der
PISA-Studie, insbesondere die vor kurzem
von der OECD veroeffentlichte Auswertung
der schlechten Noten der auslaendischen Kindern,
die hier geboren sind, macht mir Sorgen.
Das entspricht nicht dem Image, das viele
Japaner ueber Deutschland haben.
3. Was wir von Deutschland lernen koennen
Die Alterung der Gesellschaft ist eine der
ernsthaftesten Bedrohungen fuer Deutschland
und Japan. Die Geburtenrate in Japan im Jahr
2005 war 1,25 und noch niedriger als in Deutschland.
In Tokio betrug die Geburtenrate sogar nur
noch 0,98.
In den kommenden Jahrzehnten werden sowohl
Deutschland als auch Japan ernsthaften Rueckgang
der Arbeitskraft erleben muessen, was die
Leistungskraft und die Binnennachfrage beeintraechtigen
koennte.
Die japanische Gesellschaft wird noch schneller
als in Deutschland altern, weil wir viel
wenigere Immigranten akzeptieren, und der
Auslaenderanteil in der Bevoelkerung nur
noch 1,5% betraegt.
Die Bundesregierung hat ein Gesetz in Kraft
gesetzt, das die Zuwanderung der ?besten
Koepfeg nach Deutschland foerdern soll,
die gleichzeitig auch Steuer und Sozialversicherungsbeitraege
zahlen. In Japan fordert zwar die private
Wirtschaft aehnliche Ansaetze, aber die Regierung
handelt meines Erachtens nicht rasch genug.
Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen
viel mehr Interesse und Ernsthaftigkeit zu
diesem Thema als die Japaner zeigen. Es ist
vielleicht darauf zurueckzufuehren, dass
die Deutschen besser als wir langfristig
denken und einen grossen Wert auf die Planungssicherheit
legen.
Was koennen wir noch von Deutschland lernen?
Laut einer Studie der OECD ueber die Arbeitsproduktivitaet
hatten japanische Industrieunternehmen den
4. Platz unter 24 Industrielaendern.
Die japanischen Industrieunternehmen sind
also in der oberen Klasse im Wettbewerb um
die Kostensenkung und Arbeitsprozessoptimierung.
Interessanterweise zeigt eine andere Studie
zur Produktivitaet der gesamten Industrie,
dass Japan den 20. Platz unter 30 Laendern
hat. Unsere Produktivitaet war um 24% niedriger
als Deutschland und 30% niedriger als die
USA.
Es bedeutet, dass die Produktivitaet der
japanischen Angestellten oder Dienstleistungsunternehmen
viel niedriger als andere Laender ist.
Selbst viele japanische Angestellte denken,
dass ihre Arbeitsablaeufe zu kompliziert
sind. Die internen Abstimmungsverfahren,
die Vorbereitung der Unterlagen fur interne
Praesentationen und Entscheidungsprozesse
nehmen zu viel Zeit in Anspruch, was zur
Reduzierung der Zeit fur Kundenkontakt fuehren
kann.
In Japan gibt es immer noch viele Unternehmen,
wo Mitarbeiter einen Computer mit anderen
Kollegen teilen. Aus diesen Gruenden haben
wir die laengste Jahresarbeitszeit der Welt.
Einige von meinen ehemaligen Kollegen, die
im Fernsehsender gearbeitet haben, sind an
den Folgen der hohen Arbeitsbelastung relativ
jung gestorben oder schwer krank geworden.
Ich weiss, dass viele deutsche Unternehmen
generell weniger buerokratisch als japanische
Untenehmen sind, und versuchen, durch die
Digitalisierung und Prozessvereinfachung
die Effizienz zu steigern, auch wenn interne
Kommunikation manchmal leidet.
Ich glaube, dass wir bezueglich Produktivitaet
der Angestellten noch viel mehr von Deutschland
lernen koennen.
Der ehemalige Direktor der Stiftung Wissenschaft
und Politik, Professor Michael Stuermer hat
bei einem Vortrag gesagt, dass manche auslaendische
Beobachter Deutschland als ?Sick man of Europeg
bezeichnen. Deutschland ist jedoch meines
Erachtens noch nicht verloren. Ich bin zuversichtlich,
dass Deutschland in Zukunft wieder zur oberen
Klasse der Rangliste der internationalen
Wettbewerbsfaehigkeit ruecken wird.
Ich finde es sinnvoll, das Fuehrungskraefte
der deutschen und japanischen Wirtschaft
manchmal Gedanken und Erfahrungen austauschen,
um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
besser meistern zu koennen. In diesem Sinne
freue ich mich auf rege Diskussionen mit
Ihnen.
Vielen Dank fur Ihre Aufmerksamkeit.